ObjektBiografie*5: Andenken an Ravensbrück 1945 – Ein Aschenbecher als Erinnerungsstück?

Aschenbecher. Foto: MGR V1629 D5

Aschenbecher. Alle Fotos: MGR/SBG V1629 D5

Die Biografie dieses Aschenbechers ist scheinbar schnell erzählt. Sie lässt sich anhand zweier Daten festmachen. Da ist zum einen die Inschrift „Ravensbrück 1945“, deutlich sichtbar eingraviert auf dem oberen Rand, durch silbrig melierten Lack optisch hervorgehoben. Mit der Gravierung wurde aus dem Aschenbecher etwas anderes: vormalig nur Aschenbecher, nun zusätzlich ein Erinnerungsstück, das an Ravensbrück und 1945 erinnert. Das zweite Datum lässt sich anhand des Übergabeprotokolls der Gedenkstätte nachvollziehen: 20. April 1972. An diesem Tag stiftete eine Überlebende jenes Konzentrationslagers den Aschenbecher der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Von nun ist er Sammlungsstück und Teil des Depots. Mehr ist nicht bekannt. Es gibt keine Erinnerungen und keine Erzählungen zu dem Objekt. Nur zwei Daten und unzählige Leerstellen dazwischen.

Der Aschenbecher: Materialität, Funktion, Be- und Umdeutung

Draufsicht.

Blick von oben aufs Objekt.

Entstehungs- und Nutzungskontext des Aschenbechers bleiben somit weitestgehend unbekannt. Denn das Objekt selbst lässt wenig gesicherte Rückschlüsse auf die Vergangenheit zu, auf die Zeit, aus der es kommt und in der es auf vielfache Weise genutzt wurde. Ein paar Dinge lassen sich trotzdem darüber erzählen. Der Aschenbecher ist faustgroß, achtkantig und leicht. Das leicht rötliche Holz ist an einigen Flächen dunkler, an manchen Stellen sogar verkohlt.  Auch andere Abnutzungserscheinungen wie Kratzer und Ascheablagerungen auf dem Holz, oder die von einem schraffierten verkohlten Rand eingefassten Einkerbungen, die als Ablage der Zigaretten dienten, deuten auf eine – zumindest zeitweise – intensive Nutzung hin. Als Behältnis für Asche und Zigaretten zu fungieren scheint offenkundig die primäre Funktion dieses Aschenbechers gewesen zu sein; allerdings erschöpft sich die Aussagekraft dieses Indizes darin bereits. Denn, ob der Aschenbecher im Konzentrationslager genutzt wurde oder nicht, bleibt eine offene Frage.

Tatsächlich ist es unklar, ob der Aschenbecher überhaupt aus dem Lagerkontext stammt. Martha Müller, selbst für drei Jahre im KZ Ravensbrück inhaftiert, brachte ihn im April 1972 dorthin zurück, um ihn der Sammlung der Gedenkstätte zu stiften. Doch damals wurden keine Fragen zur Objektgeschichte oder der Beziehung zwischen Objekt und Stiftenden gestellt, weswegen heute ungewiss ist, wie Martha Müller in seinen Besitz kam und was er für sie bedeutete.

Detailansicht der Seite

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Dazu kommt, dass Experten des Holz- und Technikmuseum Wettenberg darauf verweisen, dass die Herstellungstechnik auf ein komplizierteres Verfahren hindeutet, das Zeit, technische Kenntnisse und bestimmte Werkzeuge voraussetzte. Es ist also eher auszuschließen, dass der Aschenbecher komplett geschnitzt wurde und tendenziell anzunehmen, dass er aus der industriellen Produktion stammt. Im KZ-Ravensbrück selbst befanden sich nach bisherigem Kenntnisstand keine Holzwerkstätten, in denen derartiges Gerät und Werkzeug vorhanden war. In der benachbarten Tischlerei des „Deutschen Ausrüstungswerkes“ der SS, die unweit des Lagers etwas westlich nahe des Schwedtsees lag, wurden ausschließlich männliche Häftlinge eingesetzt. Gut möglich also, dass der Aschenbecher erst nachträglich seine charakteristische Gravur erhielt.

Was bedeutet es also, wenn sich nichts gesichert sagen lässt, außer dass der Aschenbecher a) zeitweilig einer ehemaligen Insassin von Ravensbrück gehörte, er b) irgendwann zum Rauchen genutzt wurde und c) eine Gravur trägt, die eine erinnerungshafte Brücke zum KZ und dem Jahr 1945 schlägt?

Der Aschenbecher als Souvenir

Das Objekt sagt von sich aus nichts Absolutes über seine Funktions- oder Bedeutungsgeschichte aus und gibt daher keine Antworten auf diese Frage. Und doch ist wahrscheinlich, dass dem Aschenbecher durch die Gravur eine sekundäre Funktion hinzugefügt wurde. Von nun an fungierte er wohl zusätzlich als mnemonische Verbindung in die Vergangenheit, das heißt er stiftete Erinnerung, indem er auf einen Ort sowie eine Zeit verwies: „Ravensbrück“ (wobei damit nur das KZ gemeint sein kann, denn die Ortsbezeichnung teilt sich das Lager nur mit dem direkt angrenzenden und sehr kleinen Ort) und das Jahr „1945“ (in dem das KZ Ravensbrück im April befreit wurde).

Über das wie dieser erinnerungshaften Brücke lassen sich allenfalls Zweifel anstellen. So schreibt Christiane Holm in einem Beitrag über „Andenken/Souvenir[e]“, dass man einem Souvenir nicht ansehe, dass es eines ist, sondern dass erst die narrative Einbindung es zu einem solchen mache. (1)  Erst wenn ausgehend von einem Objekt von der Vergangenheit eines Menschen erzählt wird, entsteht bildhaft und praktisch die eigentliche Bedeutung. In diesem Fall scheint die Gravur bereits ein wenig der Verbindung zur Geschichte seiner Besitzerin anzudeuten, doch tatsächlich ist es erst die Geschichte Martha Müllers, die eine solche Verbindung plausibel macht.

Martha Müller, geboren am 20.02.1908, wurde nämlich just am 13. Februar 1945 aus ihrer knapp drei Jahre andauernden KZ-Haft entlassen. Dort war sie seit dem 17.10.1942 als sogenannte Asoziale inhaftiert gewesen, nachdem ihr Ehemann sie wenige Monate vorher, im Spätwinter 1942, bei der Polizei angezeigt hatte. Angeblich, weil sie „außländische (sic) Landarbeiter mit Zigaretten und Brot“ versorgt hätte. So steht es in ihrer Häftlingsakte. (2) Die Ehe zu Kurt Willy Müller wurde kurz darauf noch im Jahr 1942 geschieden.

Während ihrer Haftzeit wurde sie im am Rande des Lagers erbauten Siemenswerk, in Halle 1, Versand, zur Zwangsarbeit eingesetzt. Spätestens ab September 1944 lebte sie dort in einer der für die Zwangsarbeiterinnen geschaffenen Baracken in Block 7.

In den Jahren nach der Haft wohnte sie in mindestens zwei sächsischen Kleinstädten, Crimmitschau und Schlema. Neben dem Eintrag in der Häftlingsdatenbank und der Geburts-, Ehe-, und Sterberegister der Kleinstädte ist kaum etwas über Martha Müller bekannt. Sie verstarb am 06. November 1977 in Schlema, Sachsen.

Die Verbindung zwischen den Zigaretten, die sie verteilte und die Anlass zu ihrer Inhaftierung waren, und dem Aschenbecher, den sie besaß und der sie womöglich an eben jene Inhaftierung und die darauffolgende Haft erinnerte, verbleibt anekdotenhaft. Nach Holm kann das Souvenir erst durch die Praxis seiner Nutzung wirklich als solches definiert werden. Welche Erinnerung der Aschenbecher in ihr weckte, ob und wie sie ihn nutzte, kann jedoch nicht mehr in Erfahrung gebracht werden. Aber dass er ihr mindestens als mnemonische Brücke über die Jahre hinweg diente, hinein in ihre Lagervergangenheit, scheint durchaus schlüssig.

Ganz ist die Geschichte des Aschenbechers damit nicht zu Ende erzählt. Denn im Moment seiner Stiftung begann für den Aschenbecher eine neue Phase in seiner Biografie. Er wurde zum Sammlungsgut einer KZ-Gedenkstätte und zu seinen bisherigen zwei Funktionen kam damit eine weitere hinzu. So diente er einst als Aschenbecher, dann durch seine Gravur womöglich als Erinnerungsstück und kann nun, viele Jahre später, als materielles Überbleibsel einer historischen Zeit gelesen werden. Als Evidenz einer materiellen Kultur bleibt er jedoch ambivalent.

(1) Christiane Holm, „Andenken/Souvenir“ in: Handbuch Literatur & Materielle Kultur, Berlin/Boston 2018: S. 377 f.

(2) Martha Müller wurde als Elsa Martha Götz geboren. 1928 heiratete sie Kurt Willy Müller und hieß daraufhin Müller. Mit diesem Namen wird sie auch in der Häftlingsakte geführt. Sie selbst unterzeichnete das Übergabeprotokoll mit Müller und unterschrieb auch einen Brief dementsprechend. Daher ist davon auszugehen, dass sie den Namen trotz Scheidung weiterhin trug.

 

Aschenbecher | Holz, Farbe |7,0 x 2,7 cm | Depot MGR  V1629 D5

 

Zum Autor:
Henri Rösch studiert im MA Public History an der FU Berlin. Zurzeit erforscht er als Praktikant in der Stiftung Denkmal der ermordeten Juden Europas für ein Ausstellungsprojekt die Geschichte der sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher. Als studentische Hilfskraft ist er zudem für den Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie tätig.

 

2 Gedanken zu „ObjektBiografie*5: Andenken an Ravensbrück 1945 – Ein Aschenbecher als Erinnerungsstück?

  1. Hallo Herr Rösch, ich bin bin heute durch einen Hinweis auf ihre Recherche gestossen.
    Ich bin der Enkel von Frau Martha Müller und wußte bis heut nichts zur Vergangenheit meiner Großmutter. Meine Eltern wurden Anfang der 70iger Jahre geschieden und so habe ich keine Kenntnis zu den verwandtschaftlichen Verbindungen meiner Oma. Mein Vater lebt heute in Bernsbach. Ich habe allerdings auch zu ihm keine Verbindung mehr.
    Soviel ich weiß und wie ich mir aus alten Bildern entnehmen hatte er auch noch Geschwister. Falls Sie Interesse haben, könnte ich Ihnen Bilder von meiner Großmutter zukommen lassen. Von meiner Seite her wäre ich sehr an Hinweisen zu meinem Großvater interessiert. Ich wüßte allerdings nicht, wo ich mich in diese Richtung hinwenden sollte.

    mit freundlichen Grüßen Thomas Götz

    1. Lieber Thomas Götz,

      vielen Dank für Ihren Kommentar.

      Ich kann mir vorstellen, dass diese Nachricht Sie überrascht und womöglich bewegt hat. Die Gründe, warum viele Nachfahren nichts von der KZ-Haft ihrer Vorfahren wissen, sind vielfältig. Sie schildern Brüche in ihrer Familie; zudem wurden die Menschen, die als sogenannte Asoziale und Berufsverbrecher von den Nationalsozialisten verfolgt wurden und in Konzentrationslagern inhaftiert waren, auch in den Nachkriegsgesellschaften stigmatisiert. Viele sprachen daher nie über ihre Vergangenheit. Die Anerkennung dieser Menschen als Opfergruppe des Nationalsozialismus durch den Deutschen Bundestag erfolgte erst 2020 (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw45-pa-kultur-medien-opfergruppen-664624).

      Gerne schicke ich Ihnen die Quellen, die ich zu ihrer Großmutter, Martha Müller, finden konnte. Zu ihrem Großvater, Kurt Willy Müller, habe ich wenige weitere Informationen, die ich ihnen ebenfalls mitteilen werde. Und ja, ich würde mich freuen, ein Bild Ihrer Großmutter zu erhalten.

      Mit besten Grüßen,
      Henri Rösch

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