ObjektBiografie*9: Terror umrahmt von Blumen, Engeln und Tauben – Das Liederbuch von Erich Bergmann

Im Vernichtungslager Sachsenhausen fanden zehntausende Häftlinge den Tod. Wie schafft man es, in einer Welt zu überleben, in der die Regeln der Menschlichkeit außer Kraft gesetzt sind? Erich Bergmann entwickelte eine ganz eigene Strategie und schaffte es, die Zeit im Lager zu überleben.

Der Einband des handgefertigten Liederbuchs ist stark abgegriffen. Foto: GuMS/SBG 14.00317

Der Einband des handgefertigten Liederbuchs ist stark abgegriffen. Foto: GuMS/SBG 14.00317

„Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“ – Schon Nietzsche war sich in seinem Werk „Götzen-Dämmerung“ der elementaren Bedeutung der Musik für die Menschheit bewusst. Ein jeder kennt die Macht, die hinter ihr stecken kann. Ob Punk-Rock oder Kirchenlied, wichtig sind die eigenen Zuschreibungen und Emotionen. Singt man, ist man glücklich, baut Stress ab und erzeugt ein tiefes Gemeinschaftsgefühl mit den Mitsingenden. Selbst in den aussichtslosesten Zeiten kann Musik wahre Wunder bewirken und die emotionale Stärke wieder aufrichten.

Diesen Wert erkannte wohl auch der Schutzhäftling Erich Bergmann, als er 1943 das abgebildete Liederbuch verfasste. Es ist Teil des umfangreichen Nachlasses, der sich dank seiner Nichte, Rosemarie Rothe, im Besitz der Gedenkstätte Sachsenhausen befindet.

Als Schutzhäftlinge galten all jene, die als politische Regimegegner aktiv waren. Darunter fielen viele Mitglieder der Arbeiterbewegung, so auch Erich Bergmann. Bevor er 1941 nach Sachsenhausen deportiert wurde, saß er ab 1939 eine Haftstrafe im Gestapo Gefängnis Reichenberg ab. Vorgeworfen wurde ihm illegale Aktivitäten in der KPD. Eine offizielle Anklage oder ein Strafverfahren gab es jedoch nach eigenen Angaben nicht. Von hier aus wurde er dann nach Sachsenhausen transportiert.

Passfoto

Porträt von Erich Bergmann. Foto: unbekannt. GuMS/SBG

Die Jahre zwischen 1941 und 1943 wurden geprägt von den massiven Verschlechterung der Lebensbedingungen im Konzentrationslager Sachsenhausen[1] Die Zahl der Inhaftierten stieg an, der Platz wurde enger und die Selektion härter.

Während seiner Haft in Sachsenhausen wurde Bergmann in verschiedenen Arbeitskommandos eingesetzt. Unter anderem baute er als Maurer mit an den Krematorienöfen und verlegte Fliesen und Wasserleitungen in den Tötungsräumen der sogenannten „Station Z“ des KZ Sachsenhausens. Sowohl in seinem nachträglich verfassten „Tagebuch“ als auch in seinem Liederbuch aus Lagerzeiten schildert Bergmann Szenen voller Gewalt, Willkür und Unrecht. Vielleicht waren diese Erlebnisse der Ansporn für ihn, etwas zu erschaffen, das etwas Licht ins Dunkel der vergangenen und der vor ihm liegenden Jahre bringen würde. Welchen hohen persönlichen Wert dieser Gegenstand hatte, lässt sich jedenfalls leicht erkennen. Der Einband des 10,5cm x 14,7cm großen Liederbuches ist durch die permanente Benutzung beschädigt, die Seiten vergilbt und abgegriffen. Trotz der offensichtlichen Gebrauchsspuren ekennt man jedoch leicht: dieses Buch war mehr als ein Notizheft für Lagerlieder. Es war sein Anker und ein Überbleibsel aus seiner vorkonzentrationären Identität. Dieses Festhalten an „Ritualen“, die vor der Zeit der Inhaftierung im Leben präsent waren, wirkten sich stärkend auf den Überlebenswillen aus.

Da die übliche gestreifte Kleidung nicht für alle Häftlinge ausreichte, wurde auf Zivilkleidung zurückgegriffen, die, zur besseren Erkennung mit Kreuzen auf der Rückseite versehen wurde. GuMS/SBG

Da die übliche gestreifte Kleidung nicht für alle Häftlinge ausreichte, wurde auf Zivilkleidung zurückgegriffen, die, zur besseren Erkennung mit Kreuzen auf der Rückseite versehen wurde. Foto: GuMS/SBG

Viele der Lieder im Buch wurde mit einer solchen Hingabe verziert, dass man auf den ersten 16 der insgesamt 57 Seiten den Anschein hat, man blättere in einem Märchenbuch. Leider lässt sich sicher ausmachen, ob alle Zeichnungen und Niederschriften von ihm selbst gefertigt wurden. Da sich die Schrift im Verlauf des Buches wandelt und die Zeichnungen „abebben“, lässt sich jedoch vermuten, dass das Buch durch mehrere Hände ging. Oft verweisen die schönen Illustrationen die sorgsam verschriftlichen Lieder in den Hintergrund. Doch wie so oft stecken hinter Märchen weitaus grausamere und blutigere Geschichten, als auf den ersten Blick zu erkennen ist. Auch Erich Bergmann verpackt das Leid, dessen Zeuge er zwischen 1941 und 1945 in Sachsenhausen wurde, hinter einem Schleier der Ästhetisierung. Die Szenen, die er malte, sind Ausdruck des unerbittlichen Lageralltags und der Gewaltherrschaft der Lager-SS, der er schutzlos ausgeliefert war. Terror umrahmt von Blumen, Engeln und Tauben. Ein Kontrast, der deutlich macht, dass zwischen Tod, Gewalt und Leid eine Flucht ins Schöne und Kunstvolle oft die rettende Insel war.

Seite aus Liederbuch.

Das rote Dreieck an der linken Brusttasche lässt vermuten, dass es sich um ein Selbstporträt Bergmanns handelt. Foto: GuMS/SBG

Neben dem Einblick in den Lageralltag stecken in Bergmanns Bildern immer wieder Informationen über seine Person. Sogar ein Selbstportrait lässt sich neben dem Lied „Wilde Gesellen“ vermuten. Hinweis darauf, dass es sich möglicherweise um Bergmann handelt, gibt das rote Dreieck, das dem singenden Häftling auf die linke Brusttasche genäht wurde. Die Dreiecke gaben – je nach Farbe – Auskunft über den Grund der Inhaftierung. Das rote Dreieck symbolisierte die Gruppe der Schutzhäftlinge, wie Erich Bergmann einer war.

Die Liedtexte des Buches handeln von der Flucht aus dem Lager, von Heimat und dem Gedanken an das Licht am Ende des Tunnels der Gefangenschaft. Es sind sogenannte Lagerparodien, Gruppen- und Motivationslieder, die Bergmann in seinem Buch niederschrieb. Teils wurden sie während der „Schallerabende“ gesungen (z.B. Im Walde von Sachsenhausen), teils wurde von der Lager-SS ein Lied zum regelmäßigen Appell verlangt (z.B. Den Spaten geschultert). Die Zeilen des nachfolgenden Liedes aus Bergmanns Liederbuch, verfasst vom Lagerschreiber Rudi Grosse, nähern sich auf parodistischem Weg dem harten Alltag der Häftlinge an. Der Tod findet hier keinen Platz, stattdessen rufen die Zeilen auf:

Buchseite

Oft waren die Arbeiten zu schwer für die unterernährten und geschwächten Häftlinge. Einige brachen vor Erschöpfung zusammen, andere starben auch vor Erschöpfung. Foto: GuMS/SBG

(…) Los, Jungens los, zeigt euch immer groß!

Geht’s die Leiter auch mal runter

Immer heiter immer munter.

Helft mit raten, helft mit Taten!

Einem jeden Kameraden

Wen’s Pech wirklich einmal packt,

Mut! (…)

 

(…) Auf, Jungens – auf

Tag zieht herauf!

Erste Sorge gilt dem Bette,

Zweite gilt der Zigarette.

Frühling, Somer (sic.), Herbst und Winter,

Löffeln wir Suppe hinter (…)

Das gemeinsame Singen erfüllte diverse Funktionen in der Bewältigung der täglichen, teils traumatischen Erlebnisse. Hiermit wurde Kampfbereitschaft, Solidarität und Zuversicht transportiert. Eine wertvolle Überlebensressource im harten Lageralltag. Juliane Brauer beschreibt in ihrem Buch, dass schon die ersten Häftlingsgruppen in Sachsenhausen „kulturelle Blockabende zum Zwecke des gemeinsamen Gesangs“ veranstalteten – legal und illegal. Kommunistische Häftlinge, die zu den ersten Häftlingen in den Lagern gehörten, etablierten das Konzept der sogenannten „Schallerabende“.

Erich Bergmann blieb bis 1945 inhaftiert und floh bei den berüchtigten sogenannten „Todesmärschen“ gemeinsam mit einem weiteren Häftling. In der DDR baute er sich dann mit seiner Frau Lucie Bergmann ein neues Leben auf. Hier wurde er als Kämpfer gegen den Faschismus geehrt.

Leider bleibt die spannende Frage offen, wie es Erich Bergmann schaffte, ein Liederbuch, verziert mit bunten Farben und Illustrationen im Konzentrationslager zu verfassen. Die verhältnismäßig üppige Farbpallette und der zeitliche Aufwand, den die Zeichnungen mit sich bringen, könnten jedoch ein Hinweis auf einen höheren Status geben, den Bergmann im Lager einnahm.

Ob das Buch hingegen hineingeschmuggelt wurde, im Lager entwendet oder sogar hergestellt wurde, bleibt leider unklar. Doch ob geschmuggelt, entwendet oder zugeschickt, sein Liederbuch bleibt ein Kunstwerk für sich. Es hat sicherlich nicht nur ihm durch diese schwierige Zeit geholfen und Halt und Hoffnung an einem so traurigen Ort gegeben.

(1) Vgl. Brauer, Juliane, Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen, Berlin 2009, S. 124.

 

Liederbuch | 1943 | Leder, Papier, Tinte, Buntstifte | 14,7 x 10,5 x 1,5cm | GuMS/SBG 14.00317

 

Zur Autorin:
Leila Esh, Masterstudentin der Public History. Neben dem Studium unterstützt sie das Team der Öffentlichkeitsarbeit des AlliiertenMuseums Berlin und plant ihre Masterarbeit zum Thema Zionismusgeschichte.

 

 

 

 

 

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