Das Adressbuch, eine altbekannte Form der Bewahrung von Kontakten, gab es auch in Konzentrationslagern. Welche Bedeutung konnten die Häftlinge in Ravensbrück mit einem selbstgemachten Adressbüchlein verbinden? Und was verrät es über Beziehungen im Lager?
Das Adressbüchlein ist sehr dünn, es passt auf zwei Finger einer Hand. Etwa zehn gleichmäßig geschnittene, zusammengefaltete Blätter mit einem Bezug aus braunem, schwerem Papier sind mit zwei weißen Fäden gebunden. Sie sind gleichmäßig entlang des Falzes gelegt und an der Außenseite des Büchleins verknotet. Das Titelblatt trägt die mit Tinte geschriebene, kaum noch lesbare fünfstellige Nummer 15526.
Die Nummer 15526 erhielt die Belgierin Elisabeth Kraft während ihrer 867 Tage im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Sie gilt als Besitzerin dieses Adressbüchleins. Über ihr Leben ist nur wenig bekannt. Elisabeth Kraft wurde am 13. November 1911 in Antwerpen in der Familie van Elsacker geboren. Am 29. Dezember 1941 wurde sie verhaftet: Laut ihrer Häftlingskarte schrieben ihr die deutschen Besatzungsbehörden asoziales Verhalten zu, was für all jene galt, die nationalsozialistische Weltsicht nicht teilten. Nach einem Jahr in Gefängnissen in Antwerpen, St. Gilles und Aachen wurde sie Mitte Dezember 1943 nach Ravensbrück überstellt. Dort blieb sie bis zu ihrer Befreiung am 24. April 1945. Sie wurde anschließend durch die humanitären Rettungsaktion des Schwedischen Roten Kreuzes nach Lund evakuiert. Erst zwei Monate später konnte sie nach Belgien zurückkehren. Sie verstarb am 10. Mai 1995.
Selbstgebastelte Adressbüchlein sind in der Sammlung der Gedenkstätte Ravensbrück keine Seltenheit. Die Vielfalt der Formen und Materialien, die Farbigkeit, der Inhalt sowie die Menschen, die Aufzeichnungen angefertigt und eingebracht haben, ist groß. Namen und Adressen begleiten oft Gedichte, Zeichnungen und Wünsche.
Der Entstehungszeitpunkt von Elisabeth Krafts Büchlein ist nicht mehr genau festzustellen. Es kann angenommen werden, dass es im Lager kurz nach der Befreiung oder bereits bei der Ankunft in Lund entstand, wie es oft bei ähnlichen Büchlein in der Sammlung der Gedenkstätte der Fall war.
Was war die Funktion dieser Adressbücher? Im Lagerkontext ermöglichten sie es Häftlingen, emotionale Bindungen zu anderen Häftlingen zu festigen und entstandene Bekannt- und Freundschaften nach der Befreiung zu pflegen. Zugleich können wir die Adress-Sammlungen auch als eine Äußerung von Optimismus und Hoffnung auf eine erneute Begegnung im friedlichen Leben verstehen.
Die Besonderheit dieses konkreten Adressbuchs liegt darin, dass die im Buch vermerkten Frauen ihre Adressen selbst darin eintrugen. Davon zeugen die verstreuten, mit Bleistift und Tinte auf 20 Seiten in verschiedenen Sprachen geschriebenen Namen und Adressen von 28 Frauen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Jugoslawien, den Niederlanden, Polen, der Slowakei, Österreich sowie aus dem heutigen Estland und der Ukraine. Gemeinsam war den Frauen, dass die meisten von ihnen politische Häftlinge waren und nach ihrer Befreiung nach Schweden evakuiert wurden.
Werfen wir einen Blick darauf, wie sich das Schicksal von zwei der Frauen, deren Namen im Adressbuch genannt werden, entwickelte:
Das Büchlein beginnt mit dem Namen Ilse Salomon, eine der wenigen, die ihre Häftlingsnummer angegeben haben. Sie wurde 1917 in Hessen geboren. Laut ihrer Personalakte in den Arolsen Archives wurde sie kurz nach dem Kriegsbeginn verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Im September 1943 wurde sie nach Ravensbrück überstellt. Vom NS-Regime wurde sie aus verschiedensten Gründen verfolgt und verhaftet: politische Aktivität, jüdische Herkunft, „Rassenschande“, „asoziale“ Tätigkeit sowie die Zugehörigkeit zur Bibelforschung.
Interessanterweise führte sie die Nummer ihrer älteren Schwester Marie Wolf geb. Salomon neben ihrer Nummer auf, allerdings ohne deren Namen. Marie wurde drei Monate nach ihr in das KZ Ravensbrück deportiert, wo beide Schwestern zur Arbeit in der Schneiderei gezwungen wurden. Nach der Befreiung des Lagers konnten sie nach Hessen zurückkehren, wo sie ihre Mutter wiederfanden. Im Juli 1946 wandten sich die Schwestern an das amerikanische Joint Distribution Comitee, eine Hilfsorganisation US-Amerikanischen Jüd*innen, um Hilfe zu erbitten. In ihrem Antrag berichteten sie über ihr Leben in der ersten Nachkriegszeit: Aufgrund der Unterernährung im KZ litten sie unter schweren gesundheitlichen Folgen und hatten keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
Auf einer der letzten Seiten des Adressbuchs ist der Name Hedwig Sitte in feiner, strenger Handschrift zu lesen. Auch über ihr Vorkriegsleben ist wenig bekannt. Sie wurde 1916 in Liberec [Reichenberg] geboren. Am Tag der Besetzung Prags wurde sie durch die Wehrmacht zusammen mit ihrem Ehemann Kurt Sitte verhaftet. Die politische Betätigung ihres Mannes, eines Physikprofessors der Universität Prag, in der demokratischen und antifaschistischen Bewegung der Tschechoslowakei, galt als der Verhaftungsgrund. Nach der Durchsuchung und Beschlagnahmung von Büchern in ihrer Wohnung durch die Gestapo im September 1939 wurde Kurt nach Dachau geschickt. Zum Monatsende wurde er nach Buchenwald überstellt, wo er bis zum Ende des Krieges inhaftiert war. Viel weniger ist über Hedwigs Schicksal bekannt. Im Dezember 1943 kam sie in Ravensbrück an. Nach der Befreiung wurde sie, wie Elisabeth Kraft, nach Lund gebracht. Später gelang es ihr, wieder mit ihrem Mann zusammenzukommen. Laut Hedwigs Migrationskarte in Brasilien kommt sie 1953 in Rio de Janeiro an. Dieses Jahr sollte auch Kurt Sitte nach Angaben des brasilianischen Forschers Olival Freire Junior eine Gastprofessur an der Universität von São Paulo übernehmen. Doch nach einiger Zeit zerbrach die Ehe. Wie aus ihrer Einbürgerungsurkunde hervorgeht, heiratete Hedwig einige Jahre später wieder und ließ sich in den USA nieder. Dort änderte sie ihren Namen in das englischklingende „Heidi“. 1966 starb sie als Heidi Williams in Seattle im Alter von 49 Jahren.
Über die Schicksale anderer im Büchlein benannter Frauen, wie die Österreicherin Cölestine Hübner wurde bereits einiges recherchiert. Die Schicksale der Französinnen Renée Haultecoeur und Paulette Cretagne, der Luxemburgerin Paula Ghornie, der Niederländerin Tryntje Hulleman, der Polin Maria Bamber oder der Ukrainerin Marfa Tokareva und von vielen anderen, deren Namen im Adressbuch vermerkt sind, sind noch zu erschließen. Ob sich diese Frauen jemals wieder getroffen haben und wie sich ihr Leben entwickelt hat, ist ebenso noch zu untersuchen. Dieses Adressbüchlein hielt aber die Hoffnung von Elisabeth Kraft für die Zukunft sowie die Adressen derer, mit denen sie in Kontakt bleiben wollte, fest. Es war ein Zeichen dafür, dass sie nun befreit wurde und in Sicherheit war, dass der Schrecken des Konzentrationslagers hinter ihr lag.
Adressbüchlein | Papier, Garn | 4,4 x 4,7cm | Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück V1832 F2
Zur Autorin:
Ekaterina Malygina studiert an der FU Berlin im Studiengang Public History. Sie befasst sich mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Europa und ist im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst als studentische Hilfskraft tätig. Derzeit macht sie auch ein Praktikum im Berliner Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit.