Gerda Lerner, eine der Pionierinnen der Frauengeschichtsschreibung reflektiert in der Einleitung ihrer Autobiographie Feuerkraut ihre Arbeit als Historikerin: „Als Geschichtswissenschaftlerin, die über das Leben anderer forscht, beginnt man mit der Suche nach Dokumenten, den förmlichen Zeugen des persönlichen Lebens. Dokumente sind vorhanden und bescheinigen ihre eigene Existenz. Doch alles Übrige ist eine Auswahl, es ist der Fleckerlteppich des Lebens, den eine Person hinterlassen hat, etwas, das zufällig oder absichtlich vor dem täglichen Verfall gerettet wurde. Es sind die Briefe, die man nicht verbrannt hat, die Idee, die nicht verworfen wurden, die Fotos, die man nicht verschenkt hat oder in einem feuchten Keller vermodern ließ. Die Historikerin beginnt mit diesen Dingen, und die Versuchung ist groß, sie für das Leben selbst zu halten, ihnen Bedeutung zuzuschreiben, nur weil sie nicht verloren gegangen sind.“ (1)
In den Archiven und Depots der Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen finden sich Artefakte, Notizen oder auch Briefe, die Hinweise geben auf diesen „Fleckernteppich des Lebens“, oder anders: auf Momente und Begegnungen im KZ-Alltag, auf Dinge, die im Lager eine Bedeutung hatten. Manchmal gibt es Hinweise auf den Namen einer Person, Geburtsdaten oder vielleicht auch einen Geburtsort. Welche Bedeutung einzelne Artefakte für die Besitzer*innen oder Hersteller*innen hatten, ist leider viel zu selten überliefert.
Allein, dass diese „Erinnerungsstücke“ (Insa Eschebach) bereits seit den 1950er Jahren gesammelt wurden und für Ausstellungen vorgesehen waren, zeugt jedoch davon, dass ihnen eine – durchaus vielstimmige – Bedeutung zugeschrieben wurde. Eines dieser Objekte ist ein kleines Heft mit dem Titel „Sommer“. Ich habe dieses Heft das erste Mal im Sommer 2010 gesehen, damals noch auf der Suche nach Zeichnungen und Skizzen. Wie das so ist mit dem Forschen als Historikerin, manches fällt einer erst nach mehrmaligem „Draufschauen“ auf. In diesem Fall waren es die Beschreibungen der geflochtenen Schuhe und Körbe, die mich dazu anregten, dieses Heft nach längerer Zeit noch einmal genauer zu betrachten. Dabei fiel mit auf, dass ich dieses Heft nicht allein als persönliches Notizheft mit Rezepten und Bastelhinweisen lesen kann. Vielmehr finden sich hier möglicherweise Verbindungen zum Arbeitskommando Kunstgewerbe des KZ Ravensbrück, das ich in meinem Teilprojekt genauer untersuche.
Zum vollständigen Text in dem anlässlich von Insa Eschebachs Abschieds vom Amt der Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück erschienenen Sammelband „Ravensbrück denken. Gedenk- und Erinnerungskultur im Spannungsfeld von Gegenwart und Zukunft“.
(1) Gerda Lerner, Feuerkraut, . Eine politische Autobiografie. Aus dem Amerikanischen von Andrea Holzmann-Jenkins und Gerda Lerner, [E-Pub], Wien: Czernin Verlag 2012 ISBN: 978-3-7076-0423-8. Den Hinweis auf Gerda Lerner verdanke ich Katharina Prager.