Die 20,7 cm große Stoffpuppe ist in der Sammlung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück einzigartig. Es ist die einzige Puppe in der Sammlung, die eine Frau in Häftlingskleidung abbildet. Andere Puppen in der Sammlung stellen (meist) Frauen und Mädchen in Tracht oder Alltagskleidern dar. Dagegen zeigen und dokumentieren die im Lager entstandenen Zeichnungen von Häftlingen häufig den Lageralltag. Ähnlich wie bei den gezeichneten Porträts oder Alltagsszenen, könnte auch diese Puppe nach einem realen Vorbild gestaltet worden sein.
Die Häftlingsnummer auf der Puppenkleidung ist unleserlich. Erkennbar ist eine dreistellige Zahl, die auf eine Person verweist, die bereits in der Entstehungsphase des Lagers in Ravensbrück inhaftiert war. Über der Häftlingsnummer ist ein roter Winkel aufgenäht, der im Lager von politischen Häftlingen getragen werden musste.
Die Kleidung der Puppe ist einem Arbeitsanzug nachempfunden, der von Häftlingen in technischen und handwerklichen Arbeitskommandos getragen wurde und diese vor Schmutz und Gefahrstoffen, wie Chemikalien schützen sollte. Die Frauen, die als Handwerkerinnen arbeiteten, konnten sich weitgehend frei im Lager bewegen. Diesen Vorteil nutzten sie, um sich mit Mithäftlingen zu vernetzen und um Material und Lebensmittel zu schmuggeln, die sie im Lager verteilten. Die „Sturm-Kolonne“ (benannt nach Hanna Sturm, die als Funktionshäftling diesem Handwerkskommando vorstand) war beispielsweise im gesamten Lager für Reparaturen und dem Einbau von Fenstern verantwortlich und dabei auch in der SS-Siedlung tätig. Charlotte Müller, eine deutsche Kommunistin und Tochter eines Klempners, wurde im Januar 1943 als Lagerklempnerin tätig und konnte sich – gebilligt durch die SS – ihr Kommando selbst zusammenstellen. Charlotte Müller wählte gezielt zwei Frauen aus dem Block der Roten Armee mit denen sie sich vernetzen wollte für ihr Kommando aus. Zusätzlich holte sie zwei herzkranke Belgierinnen in ihre Kolonne. Schwere Arbeiten mussten die Belgierinnen unter dem Schutz Charlotte Müllers nicht übernehmen, sodass sie überleben konnten.
Die Frauen in den Handwerkskommandos waren im Lager bekannt und nach Aussagen Überlebender sehr beliebt. Durch Solidaritätsaktionen und Hilfstätigkeiten hatten die Handwerkerinnen Vorbildcharakter. Möglicherweise stellten sie auch für die Kinder im Lager ein Vorbild da. Denkbar ist, dass es sich bei der Stoffpuppe um ein Kinderspielzeug handelt, mit dem Kinder zum Beispiel Lagerrealitäten verarbeiten konnten und Verhaltens- und Überlebensstrategien der Handwerkerinnen spielerisch erlernen konnten.
Das verwendete Material verweist auf die Schneidereibetriebe der Gesellschaft für Textil- und Lederverwertung (Texled), die im KZ Ravensbrück produzieren ließ. Die Textilien stammen vermutlich aus dem Materialbedarf für Häftlingskleidung. Das Haar der Puppe besteht aus Echthaar und stammt vermutlich von der Herstellerin selbst.
Im Zuge der Vorbereitungen für eine erste Ausstellung waren ehemalige Häftlinge 1958 aufgerufen, Objekte in die Sammlung der neu errichtenden Gedenkstätte zu geben. Auch die Stoffpuppe im Blaumann ist auf diese Weise Teil der Sammlung geworden. Objektinformationen sind weitgehend verloren gegangen. Exponatlisten, die im Archiv der Gedenkstätte überliefert sind und vermutlich aus den 1980er Jahren stammen, inventarisieren das Objekt lediglich mit einer knappen beschreibenden Objektbezeichnung. So lässt sich nicht mehr rekonstruieren, wer die Stoffpuppe hergestellt und wem sie gehört hat.
Objekt: Stoffpuppe in blauem Arbeitsanzug | undatiert | Textil (Baumwolle, Baumwollmischgewebe), Garn, Echthaar, Draht | Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, V618 D3
Zur Autorin:
Lisa Ströer, M.A., hat in ihrer Masterarbeit Objekte aus der Sammlung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück erforscht. Derzeit ist sie wissenschaftliche Volontärin im Bereich Museumspädagogik in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt.
Super recherchierte Arbeit, gelungene Dokumentation