In der Ausstellung über das Krankenrevier des Konzentrationslager Sachsenhausen in der Gedenkstätte Sachsenhausen ist unter anderem ein kleines, unscheinbares Lederarmband zu sehen. Wem gehörte es und welche Bedeutung hatte der Gegenstand für seinen Besitzer?
21.12.1943. Mit diesem Datum beginnt die Geschichte des Objekts, das gegenwärtig in der Ausstellung „Medizin und Verbrechen. Das Krankenrevier des KZ Sachsenhausen 1936-1945“ der Gedenkstätte Sachsenhausen zu sehen ist. Es handelt sich um ein kleines Lederarmband, gerade mal 4,3 cm breit und 25 cm lang. Vervollständigt wird das Armband durch eine kleine Metallplatte, ein Messingblech, auf dem einige Daten eingraviert sind: „Knud Damsgaard Jensen“, „DN 74331“, „Geb. 25.10.20 K.L.S.H“. Wenige Informationen, die auf das Schicksal des damals 23-jährigen Dänen verweisen.
21.12.1943. Für den Dänen Knud Damsgaard Jensen bedeutete der Tag den Beginn eines grausamen Lebensabschnittes. Einige Tage vor Weihnachten wurde er in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert. Deportiert wurde Damsgaard Jensen durch den Sicherheitsdienst Kopenhagen. Er selbst berichtete in einem Interview 1996, dass er nie verstand, warum er nach Sachsenhausen gebracht wurde, war er doch nur ein einfacher Metallarbeiter aus Odense in Dänemark. Seine Vermutung für den Inhaftierungsgrund war: „Vielleicht sollte ein Exempel statuiert werden.“ Tatsächlich lässt sich seine Verhaftung mit einer Vergeltungsaktion der deutschen Besatzungsbehörden in Dänemark in Zusammenhang bringen. Diese Vergeltungsmaßnahme richtete sich gegen die so genannte Augustrevolte 1943, bei der der dänische Widerstand gegen die deutsche Besatzung mehrere Sabotageaktionen und Streiks organisierte.
Wurde Knud Damsgaard Jensen in der ersten Zeit zunächst zur Zwangsarbeit in den Heinkel-Flugzeugwerken in Oranienburg eingesetzt, verbrachte er nach einer Lungenentzündung mit schwerem Fieber daraufhin mehrere Monate im Krankenrevier des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Nachdem er sich von seiner Erkrankung erholt hatte, wurde er als Pfleger im Krankenrevier eingeteilt. Dabei war er ab August 1944 unter anderem zuständig für das Umsorgen des Patienten und Mithäftlings Hans von Dohnanyi. Von Dohnanyi war deutscher Widerstandskämpfer und beteiligt an zwei gescheiterten Putschversuchen und Anschlägen auf Adolf Hitler. 1943 wurde von Dohnanyi verhaftet und im August 1944 in das Krankenrevier des KZ Sachsenhausen eingeliefert. Aus der Verantwortung für die Pflege von Dohnanyi, der an Diphterie erkrankte, entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Freundschaft zwischen den beiden Männern, aus der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Hinrichtung von Hans von Dohnanyi eine Verbindung zwischen den Familien entstand. Auch an andere Freundschaften konnte sich Jensen, mehrere Jahrzehnte nach der Zeit in Sachsenhausen in einem Brief an den Wissenschaftler Winfried Meyer in den neunziger Jahren erinnern. In dem Brief nannte er Bruno Wrede, den polnischen Dr. Kelles Kraus und den in Berlin lebenden Griechen Jesus Nekrolapolus, die er im Konzentrationslager Sachsenhausen kennenlernte. Dies zeugt von den auch transnational engen zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich trotz oder gerade wegen der widrigen Umstände in solch einer Zeit entwickeln konnten.
Als Häftling aus Skandinavien profitierten Knud Damsgaard Jensen und zahlreiche andere Häftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen ab April 1944 von den Lebensmittelpaketen des Schwedischen Roten Kreuzes. Auch zu seiner Familie konnte Jensen durch Briefe spärlichen Kontakt halten. Diese zwei Faktoren waren wahrscheinlich mit ausschlaggebend dafür, dass er die Zeit im Konzentrationslager Sachsenhausen überlebte. Im Frühjahr 1945 wurde Jensen in das Konzentrationslager Neuengamme überführt und von da durch das Schwedische Rote Kreuz und die sogenannte „Rettungsaktion der Weißen Busse“ zurück nach Dänemark gebracht.
21.12.1943. Am Einlieferungstag von Knud Damsgaard Jensen dürfte ihm wohl mit der Häftlingskleidung auch das kleine Stück Messingblech mit seiner Häftlingsnummer überreicht worden sein. Ob das Lederarmband schon dazugehörte, lässt sich nicht rekonstruieren. Man kann jedoch davon ausgehen, dass er gezwungen war, das Messingblech ständig zu tragen. Das wird deutlich, wenn man Damsgaard Jensens Armband mit den Ergebnissen von Barbara Hausmair vergleicht, die über Häftlingsmarken aus dem Konzentrationslager Mauthausen forscht.(1) Hausmair beschreibt, dass die Häftlingsmarke für die Lagerinsassen bedeutend war und der Verlust der Marke gravierende Folgen haben konnte. In der Nazi-Bürokratie bedeutete die Zuteilung einer Häftlingsnummer, die mit Ankunft im Konzentrationslager als Ausweis angesehen wurde, die Auslöschung der einzelnen Persönlichkeiten und Individuen. Im Lager war die Häftlingsnummer also das entscheidende Erkennungszeichen. Deswegen liegt die Vermutung nahe, dass die weiteren Inschriften auf der Marke nachträglich hinzugefügt wurden, da sowohl der Name der Häftlinge als auch das Geburtsdatum für die Verwaltung und Ausweis der Lagerinsassen mit ihrer Ankunft zweitrangig wurden.
Sein Name und sein Geburtsdatum, aber auch die Abkürzung „K.L.S.H.“, die für das Konzentrationslager Sachsenhausen stand, könnten von Damsgaard Jensen oder einer ihm nahestehenden Person hinzugefügt worden sein, da das Armband vermutlich der einzige Gegenstand im Konzentrationslager war, den er seinen Besitz nennen konnte und durch die hinzugefügten Gravierungen, anders als beispielsweise die Häftlingskleidung, Individualität im Lager darstellte. Damit gewannen das Lederarmband und die Marke nicht nur als Ausweisgegenstand Bedeutung für ihn, sondern vielleicht auch als gedankliche Stütze, um sich seiner Selbst zu vergewissern. Dass die Häftlingsmarken verändert und ausgestaltet wurden, war keine Seltenheit in Konzentrationslagern wie Sachsenhausen oder Mauthausen. Die Häftlingsmarken, die gegenwärtig im Depot der Gedenkstätte Sachsenhausen zu finden sind und auch die, die Hausmair aus Mauthausen analysierte, weisen unterschiedliche Erscheinungsbilder auf: Sowohl die Gravierung der Häftlingsnummer als auch die Form, Größe und Tragweise der Marken unterscheiden sich in vielen Fällen. Die noch erhaltenen Armbänder und Marken zeugen davon, dass ein Objekt, das zur Entmenschlichung der Lagerinsassen beitragen sollte, für viele zu dem Gegenstand wurde, der einen sehr hohen Stellenwert in der Zeit der Inhaftierung im Konzentrationslager haben und die Individualität bewahren konnte.
Das Objekt wurde in den 1990er Jahren an die Gedenkstätte gestiftet und ist in der Ausstellung über das Krankenrevier zu sehen.
(1) Hausmair deutet in ihrem Aufsatz auch die Existenz von Häftlingsmarken als Identifikationsgegenstand in anderen Konzentrationslagern an, darunter auch Sachsenhausen. Sie konnte jedoch nicht feststellen, ob die Häftlingsmarken in Mauthausen oder den anderen Konzentrationslagern schon von Anfang an vergeben wurden, vgl. Barbara Hausmair: Identity Destruction or Survival in Small Things? Rethinking Prisoner Tags from the Mauthausen Concentration Camp. In: International journal of historical archaeology, 2018-09, Vol. 22 (3), S. 476.
Weiterführende Literatur:
Barbara Hausmair: Identity Destruction or Survival in Small Things? Rethinking Prisoner Tags from the Mauthausen Concentration Camp. In: International journal of historical archaeology, 2018-09, Vol. 22 (3), S. 472–491.
Astrid Ley, Günter Morsch: Medizin und Verbrechen. Das Krankenrevier des KZ Sachsenhausen 1936–1945. Berlin 2007.
Winfried Meyer (Hrsg.): Hans von Dohnanyi. Verschwörer gegen Hitler. „Mir hat Gott keinen Panzer ums Herz gegeben“. Briefe aus Militärgefängnis und Gestapo-Haft 1943–1945. 1. Auflage. München 2015.
Leder-Armband | Messingblech, Metall, Leder | 4,3 x25 cm | GuMS/SBG III 195
Zur Autorin:
Ronja Kuban, Studentin des Masterstudiengangs Public History an der Freien Universität Berlin. Sie konzipiert zurzeit mit anderen Studierenden in Zusammenarbeit mit dem ZZF, der Gedenkstätte Lindenstraße und der Stadt Potsdam eine Tagung zum Thema Erinnerungskonkurrenzen und arbeitet als studentische Hilfskraft für den Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin und für die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.