Eine winzige Schnitzerei

1959 stiftete die Überlebende Julia Breton der neu gegründeten Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück einen geschnitzten Miniaturvogel. Zur Beziehung zwischen der Stifterin und der Schnitzerei wurde damals nicht mehr als das Jahr der Übergabe vermerkt Eine Annäherung über die Materialität des Vogels und die Erinnerungen anderer.

„Miniaturvogel“, Foto: Cordia Schlegelmilch; MGR/SBG V565 D2

„Miniaturvogel“, Foto: Dr. Cordia Schlegelmilch; MGR/SBG V565 D2

Betrachten Sie einmal Ihre Fingernägel. Achten Sie auf Ihre Größe. Wie klein sie nur schon im Vergleich zu Ihren Händen sind, nicht wahr? Nun, so klein ist der Miniaturvogel, dessen Geschichte hier erzählt werden soll: 0,2 x 1,8 x 1,0 cm. Es ist kaum größer als die Computertasten, die Sie getippt haben, um unseren Blog zu öffnen.

Dennoch schaffte es die Hersteller:in, der Figur einige Details einzuschnitzen. Aus transparentem Kunststoff entstand so ein Vogel mit bauchigem Körper, dreigliederigem Fuß, zwei spitz zulaufenden Schwanzfedern, rundem Köpfchen samt mittig eingekerbtem Auge und langem Schnabel. Über seine abgerundeten Ränder wird eine Dreidimensionalität angedeutet. Auf den Schwanzfedern und dem Fuß lassen sich feine, beinahe parallel verlaufende Rillen erkennen. Sie verleihen dem Vogel zusätzlich Struktur. An einigen Stellen ist die Figur von Kratzern gezeichnet. Ob sie wohl schon bei der Herstellung, etwa beim Polieren entstanden? Oder sind sie Spuren des versteckten Aufbewahrens im Konzentrationslager? Vielleicht kamen sie auch erst in späteren Jahrzehnten dazu. Rückblickend können wir die Frage kaum beantworten.

Zur Überlieferungsgeschichte der Miniatur
Als Julia Breton den Miniaturvogel 1959 der neu gegründeten Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück übergab, wurden kaum Informationen zu ihm aufgenommen. In den entstehenden Ausstellungsräumen sollten nicht die individuellen Geschichten der gesammelten Objekte und ihrer Hersteller:innen, Besitzer:innen und Stifter:innen erzählt werden. Vielmehr dienten diese Objekte in ihrer Gesamtheit als materielle Zeugnisse des nationalsozialistischen Terrors im ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück – und des Widerstandes dagegen. Unter dieser Prämisse fand der kleine Vogel im französischen Gedenkraum der ersten Lagerausstellung von 1959 seinen Platz.

Von diesem Moment an können wir seinen Weg nachvollziehen, bis heute. Während ich über ihn schreibe, untersuchen Wissenschaftler:innen der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW) seine Materialität. Der kleine Vogel ist vom Ausstellungs- zum Forschungsobjekt geworden. Was er aber davor war, wo und wann er hergestellt wurde und was er im Konzentrationslager und danach bedeutete: diese Fragen können wir nur versuchsweise beantworten. Denn auch zum Leben der Stifterin finden sich kaum Informationen.

Die wenigen Hinweise aus den Archiven trug der Historiker Norman Warnemünde in seiner Recherche zu einer ebenfalls von Julia Breton gestifteten Miniaturblume zusammen (1): Ihnen zufolge wurde Julia Breton mit 44 Jahren am 29. August 1943 gemeinsam mit 142 weiteren Frauen von Paris nach Ravensbrück deportiert. Wieso sie in Frankreich verhaftet worden war, ist nicht bekannt. Wie die meisten Frauen ihres Transports wurde auch Julia Breton nach einem Monat im Stammlager in das Außenlager Ihlenfelder Straße in Neubrandenburg verlegt. Dieses ehemalige Zwangsarbeitslager war in den Monaten zuvor von inhaftierten Frauen zum Konzentrationslager für sogenannte „politische Häftlinge“ umgebaut worden. Bei Julia Bretons Ankunft waren hier bereits über 1000 Frauen inhaftiert, bis zur Befreiung des Lagers im April 1945 würde das größte Außenlager Ravensbrücks auf bis zu 7000 Menschen anwachsen. Viele von ihnen wurden in den Mechanischen Werkstätten Neubrandenburg (MWN) zu Zwangsarbeit verpflichtet, so vermutlich auch Julia Breton. In den Fabriken mussten die Frauen Flugzeugteile und Bombenabwurfgeräte für die deutsche Luftwaffe produzieren. Wie Norman Warnemünde schreibt, könnte der für Julia Bretons Miniaturfiguren verwendete transparente Kunststoff aus eben diesem Zwangsarbeitsbetrieb stammen.

Ob Julia Breton die kleine Vogelfigur selbst schnitzte oder sie als Geschenk erhielt, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Beides ist möglich, und mehr. In Erinnerungsberichten über Ravensbrück erzählen Frauen davon, wie sie solche kleinen Schnitzereien an Mitinsassinnen verschenkten oder von ihnen geschenkt bekamen. Zum Namenstag, zum Geburtstag, zu Weihnachten. „Um eine Freude zu bereiten, um Mut zu zusprechen“, berichtete etwa die polnische Überlebende Joanna Szydłowska. Gefertigt wurden religiöse, nationale und politische Symbole. Aber auch Herzen, Blumen oder Tierfiguren wie der winzige Vogel, von dem wir nicht wissen, ob er für Frieden und Freiheit stand oder eine ganz andere Bedeutung in sich trug. Diese Miniaturen vermochten an Vorstellungen von Zugehörigkeit und Identität sowie an Erinnerungen und Traditionen außerhalb des Lagers anzuknüpfen und diese im Lager gleichzeitig zu schaffen.

„Kleine Sabotagen“ nannten manche Frauen das für die Miniaturen notwendige Entwenden und Umnutzen von Werkstoffen, Zahnbürstenstielen, Schalterknöpfen und anderen Plastikmaterialen während ihrer Arbeitszeit oder abends im Block, hinter dem Rücken der Wärter:innen. (2) Obwohl strikt verboten, besassen viele Gefangene auch abseits des Zwangsarbeitsbetriebs ein Schnitzwerkzeug: Ein Stück eines Sägeblatts, ein Teil eines Blechs oder ein tatsächliches Messer. Womit der von Julia Breton gestiftete Vogel hergestellt wurde, ist nicht gesichert. In einem Gespräch mit der Restauratorin Maja Ossig erfuhr ich, dass Bearbeitung auf mindestens zwei verschiedene Werkzeuge schließen lässt: ein bohrerartiges für die Augenkuhle und ein scharfkantiges für die geschnitzten Konturen. Diese unterschiedlichen Werktechniken weisen darauf hin, dass der auf den ersten Blick so schlicht aussehende Vogel mit großer Hingabe angefertigt wurde.

Die Überlebende Urszula Wińska erinnerte sich daran, dass der Anblick solcher, manchmal eben nur fingernagelgroßer Figuren einen kurzen Moment der Ausflucht aus dem gewaltvollen Lageralltag bedeuten konnte: „Wir fühlten uns durch das ästhetische Erlebnis wie durch ein Gebet vereint und von der Umgebung weit entfernt. “Wohl auch deswegen wurden die Miniaturen von einigen Frauen als „Wunderdinge“ und „Schätze“ bezeichnet.(3) Die Schnitzereien widersetzten sich der angestrebten Entmenschlichung, Gewalt und Hässlichkeit des Konzentrationslagers. Sie sind kleine Manifestationen von Individualität, sozialen Beziehungen und Schönheit. Auch wenn vielleicht nicht jedes dieser großen Worte zu jeder dieser kleinen Figuren passt. Was der Miniaturvogel für Julia Breton im Konzentrationslager und danach bedeutet haben mag, können wir nicht wissen. Sie nahm ihn nach der Befreiung am 30. April 1945 aus Neubrandenburg mit und brachte ihn 14 Jahre später nach Ravensbrück zurück. Vier weitere Miniaturen, drei Blumen und ein kleiner Hund aus transparentem Kunststoff, würden bis 1967 denselben Weg gehen.

 

(1) Zur Objektbiografie über die Miniaturblume Julia Bretons siehe: Norman Warnemünde, Erinnerungsstücke aus Ravensbrück. Geschichte(n) in zehn Objekten, Berlin 2019, S. 47-53.
(2) Überliefert ist die Bezeichnung „kleine Sabotagen“ etwa in den Erzählungen von Mirosława Grupińska, Stefania Lipska und Joanna Szydłowska, in: Urszula Wińska: Zwyciężyły Wartości.Wspomnienia z Ravensbruck [Die Werte siegten. Erinnerungen an Ravensbrück], Gdańsk 1985 (deutsche Arbeitsübersetzung), S. 270- 273.
(3) Die Begriffe „Wunderdinge“ und „Schätze“ sind u.a. nachzulesen im Bericht von Joanna Szydłowska über die künstlerische Tätigkeit im Konzentrationslager Ravensbrück (deutsche Übersetzung des polnischen Originals, Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück).

 

Autor:in: Raffaela Pfaff.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Projektseminars in Kooperation mit der FU Berlin/ Public History im Wintersemester 2020/21.

 

 

 

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