ObjektBiografie*6: Ein Messer und viele Fragen

Tief in einem Taschenmesser sind Informationen eingraviert, sie erzählen von Josef Wudkowski, der sowohl im Konzentrationslager Sachsenhausen als auch Ravensbrück gefangen war. Welche Fragen kann das Messer noch beantworten? Und was lässt sich überhaupt herausfinden inmitten einer Pandemie?

Klappmesser geschlossen. Foto: MGR/SBG V6139 B1

Klappmesser geschlossen. Foto: MGR/SBG V6139 B1

Es ist November 2020, mitten in der Corona-Pandemie, ich sitze vor meinem Laptop und betrachte zunehmend entmutigt das Bild eines Messers. Es ist ein Faltmesser, ein sogenanntes Balisong finde ich später heraus, das einem Mann gehörte, der in verschiedenen Konzentrationslagern gefangen war. Er hieß Josef Wudkowski. In die Metallgriffe des Messers sind seine Häftlingsnummern eingraviert: KL-GR-No 34870 (Konzentrationslager Gross-Rosen, Häftlingsnummer 34870), KL-RB-No 13390 (Konzentrationslager Ravensbrück, Häftlingsnummer 13390), KL-SH-BJ-WJ No 82603 (Konzentrationslager Sachsenhausen, Wudkowski Josef, Häftlingsnummer 82603). Wofür das BJ steht, weiß ich nicht.

Überhaupt weiß ich fast nichts über das Objekt und wenig über seinen Besitzer. Josef Wudkowski wurde am 7. Dezember 1915 geboren. Er war Pole und kam vermutlich über die Gestapo Breslau (das heutige Wrocław) ins Konzentrationslager Groß-Rosen. Am 7. Juni 1944 wurde er ins Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert, dort war er im Heinkel-Flugzeugwerk Oranienburg eingesetzt. Das Luftfahrtunternehmen setzte seit 1940 Häftlinge aus den Konzentrationslagern als Arbeitskräfte ein, ab 1942 waren diese in einem separaten Außenlager untergebracht. Ihre Tätigkeiten reichten dabei von ungelernten Arbeiten bis zu komplexen Aufgaben, ausgewählt wurden häufig Häftlinge mit fachlichem Hintergrund. Aufzeichnungen deuten darauf hin, dass Josef Wudkowski dort möglicherweise als Stellmacher tätig war. Er fertigte also wahrscheinlich Flugzeugteile aus Holz an, ein für die damalige Flugzeugherstellung üblicher Werkstoff. Häufig bestanden die mit Aluminium verkleideten Tragflächen aus Holz und auch Flugzeugpropeller wurden daraus hergestellt. Am 6. April 1945, mit 29 Jahren, wurde Josef Wudkowski in das Konzentrationslager Ravensbrück überstellt. Dort verliert sich seine Spur.

Die begrenzten Möglichkeiten während des Lockdowns schränken die Recherche stark ein. Archive und Bibliotheken sind geschlossen. Viele Institution antworten nicht oder deutlich langsamer auf Anfragen. Auch die Mitarbeiter*innen der Gedenkstätten sind im Home-Office und haben nur bedingt Zugriff auf alle Datenbanken.

Klappmesser geöffnet.

Klappmesser geöffnet. Foto: MGR/SBG

Ich versuche die Geschichte des Messers nachzuzeichnen. Wurde es industriell gefertigt? Stellte Josef Wudkowski es vielleicht sogar selbst her? Diese Art von Faltmesser kann in Handarbeit hergestellt werden, wenn die nötigen Maschinen und Materialen vorhanden sind. Konnte er es vielleicht während seiner Arbeit im Heinkel-Werk heimlich herstellen? Hatte er es während seiner Zeit in den Konzentrationslagern bei sich? Eigentlich war der Besitz von Messern oder ähnlichen Werkzeugen den Häftlingen streng verboten. Bei ihrer Ankunft wurden ihnen fast alle privaten Gegenstände abgenommen und in sogenannten Effektenkammern gelagert. Trotzdem ist bekannt, dass einzelne Häftlinge Messer besaßen. Dies geht beispielsweise aus Zeitzeugenberichten hervor. (1) War Josef Wudkowski einer von ihnen? Hatte vielleicht ein Häftling, der in der Effektenkammer tätig war, das Messer herausgeschmuggelt? Beantworten kann ich diese Fragen nicht.

Ich denke darüber nach, was der Besitz eines Messers im Lebensalltag eines Konzentrationslagers bedeutet haben könnte: Zuerst einmal ist es ein Werkzeug. Außerhalb des Lagers war es üblich, ein Taschenmesser bei sich zu tragen. Es ermöglicht einem Dinge zu schneiden, Brot zum Beispiel, wenn es denn welches gab. Dann ist ein Messer auch eine Waffe. Es kann zur Selbstverteidigung dienen, man fühlt sich vielleicht sicherer.

Ich frage mich, wie es weiterging, als im Frühjahr 1945 das Kriegsende immer näher rückte. Knapp drei Wochen nach Josef Wudkowskis Ankunft im Konzentrationslager Ravensbrück wurde es geräumt und die Menschen auf einen „Todesmarsch“ geschickt. Viele Menschen kamen durch diese grausamen Märsche ums Leben. Erging es so auch Josef Wudkowski? Oder erlebte er mit, wie die Überlebenden nach sechs Tagen von sowjetischen Truppen befreit wurden?

Ich mache mir auch Gedanken darüber, was mit dem Messer nach 1945 geschehen ist. Am Objekt selbst kann ich nicht sehen, ob die Häftlingsnummern und Initialen schon während der Zeit im Konzentrationslager, oder erst später, nach der Befreiung eingraviert wurden. Diente es vielleicht als eine Art Erinnerungsstück? Für Josef Wudkowski oder für jemanden, der/die ihn kannte? 2016 wurde es von einer Mitarbeiterin der Gedenkstätte Ravensbrück über das Internet angekauft. Diese Ankäufe gibt es hin und wieder, wenn eindeutig ist, dass das im Internet angebotene Objekt aus dem Kontext des Konzentrationslager stammt. Dass jedoch Menschen Profit mit dem Verkauf von Gegenständen ehemaliger Häftlinge machen, wird von den Mitarbeitenden der Gedenkstätte grundsätzlich sehr kritisch bewertet. Auch, weil dabei die Nachverfolgung der Objektgeschichte meist schwierig oder unmöglich ist. So auch bei diesem Objekt, wie der Verkäufer an das Messer kam, ist nicht bekannt.

Nun ist es Januar 2021, drei Monate habe ich mit Recherchen über das Faltmesser verbracht und mit Recherchen über seinen Besitzer, Josef Wudkowski. Einiges konnte ich herausfinden. Doch viele Fragen, die ich habe, bleiben offen. Ob dies an den verringerten Recherchemöglichkeiten liegt oder ob die Antworten im Laufe der Zeit verloren gegangen sind, kann ich, wie so manches, nicht beantworten.

 

(1) Siehe dazu beispielsweise: Zeitzeugen Interview mit Max Drimmer und Herman Shine, 15.11.1989. In: United States Holocaust Memorial Museum Collection. Accession Number: 1999.A.0122.399, RG Number: RG-50.477.0399. URL: https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn511712 (04.02.2021).

 

Klappmesser |Metall  | 12,5 cm x 8,5 cm |MGR/SBG V6139 B1

 

Zur Autorin:
Philine Pahnke studiert Public History in Berlin. Sie arbeitet im Deutschen Historischen Museum als Studentische Mitarbeiterin.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.