ObjektBiografie*7: Ein Buch aus Falkensee

Aus dem Außenlager Falkensee des Konzentrationslagers Sachsenhausen sind mehrere Erinnerungs-, Adress-, sowie Liederbücher erhalten. Eines davon stammt von dem am 20. August 1912 in Oslo geborenen Norweger Leif Kaare Hansen. Er hielt künstlerisch seine Haftgeschichte mit all seinen Haftstationen von Anfang bis Ende, die Namen und Adressen anderer Häftlinge sowie Zeichnungen aus dem Gefangenenalltag und Gedichte in seinem Buch fest.

Titelseite. Foto: GuMS/SBG III263b

Titelseite. Foto: GuMS/SBG III263b

Die einzelnen Haftstationen samt Daten und zugeteilter Häftlingsnummern wurden kunstvoll auf der ersten Seite des Buches dokumentiert. Diese Anfangsseite hat Hansen vermutlich nicht selbst gezeichnet, da man denselben Stil auch in mehreren anderen Büchern von Häftlingen aus Falkensee findet. Die einzelnen Felder in den vier Ecken des Blattes, welche die verschiedenen Haftstationen abbilden, sind mit einem eindrucksvoll gezeichneten Stacheldraht umrandet und verbunden. Es fällt gleich auf, dass Hansen von Anfang an ein Feld für das Datum seiner Befreiung vorgesehen hatte, welches er mit einer anderen Schriftfarbe ausfüllte. Außerdem ergänzt Hansen diesen Nachtrag mit derselben Farbe um die einzelnen Stationen seiner Befreiung – für die ursprünglich kein Feld vorgesehen war. Dies zeugt davon, wie wichtig dem Verfasser diese Ereignisse waren, auch wenn sie das sonst so geordnete Bild stören.

Im Mittelpunkt der Seite steht Hansens Häftlingsnummer aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen, welche in den Farben der Häftlingskleidung – blau-weiß – umrandet ist. Im ersten Feld links oben steht Møllergata 19, das Hauptquartier und Gefängnis der nationalsozialistischen Sicherheitspolizei in Oslo. Der protestantische Arbeiter wurde am 6. März 1942 dorthin gebracht, nachdem er Flugblätter in Oslo verteilt hatte und dabei verhaftet worden war. Am 9. September 1942 wurde er von dort in das Polizeihäftlingslager im norwegischen Grini verlegt. Anschließend, am 20. Februar 1943, kam er ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Kurze Zeit später, am 6. März 1943, wurde er nach Berlin-Staaken gebracht, um das Arbeitslager Falkensee aufzubauen, wo er im Anschluss untergebracht wurde und die kommenden zwei Jahre blieb. Am 26. März 1945 begann seine Befreiung. Zunächst kam er mithilfe der Weiße Busse ins Konzentrationslager Neuengamme, welches als Sammellager der Rettungsaktion fungierte. Danach ging es weiter über das schwedische Ramlösa, bis er am 12. Mai 1945 in Stockholm ankam. Am 19. Mai 1945 war er wieder zurück in Oslo.

Nach der informationsreichen Anfangsseite folgt eine sorgfältig gezeichnet und geschriebene Adressliste, nach Haftnummern sortiert. Hansen beginnt mit 82 Norwegern. Er war Teil einer Gruppe von über 200 Norwegern, die gemeinsam mit 100 weiteren Häftlingen anderer Nationen das Lager Falkensee aufbauten. 125 Norweger von den 200 waren bereits seit Grini und größtenteils bis Neuengamme zusammen. Es ist anzunehmen, dass 75 von den 82 aufgelisteten Häftlingen gemeinsam mit Hansen nach Sachsenhausen und Falkensee kamen, da ihre Häftlingsnummern nah beieinanderliegen. Die weiteren von Hansen aufgeführten Häftlinge sind vermutlich Mitgefangene, die er im Laufe seiner Haft kennenlernte. Nach den norwegischen Häftlingen nennt er fünf dänische Gefangene, einen ukrainischen, einen tschechoslowakischen und einen russischen Häftling. Da sich bei den letzten drei Personen die Handschrift geändert hat, ist davon auszugehen, dass sie sich selbst eingetragen haben.

Auch die anschließenden drei Zeichnungen in Hansens Buch sind von unterschiedlichen Personen gefertigt worden. Es werden vermutlich Alltagssituationen im Arbeitslager dargestellt. Auf dem ersten Bild sieht man einen Mann, der an einer Kochstelle steht. In einer Sprechblase beschwert er sich, dass zu wenig Platz sei. Im Hintergrund steht ein Tisch, unter anderem mit einer Kiste, auf der ein rotes Kreuz gemalt ist. Die Kiste verweist auf die Lagerpakete vom Internationalen Roten Kreuz, die ab Weihnachten 1942 in verschiedene Konzentrationslager verschickt wurden. Unter dem Bild stehen ein Name und eine Adresse: „Oskar Hansen Solhaugsgt 6 Oslo“.

Das zweite Bild zeigt einen auf einer Schräge liegenden Mann in Häftlingskleidung in einer Werkstatt, der sich über einen Alarm beschwert. Die Uhr an der Wand steht auf halb neun. In der Werkstatt findet sich neben einer Werkbank unter anderem eine Kiste mit der Aufschrift „S.K.F.“. Dies könnte für die Svenska Kullagerfabriken stehen, welche unter anderem Wälzlager und Dichtungen produzierten. Auch hier sind ein Name und eine Adresse angegeben: „Aage Kodahl Mejlgade 67 Aarhūs“. Der Däne Aage Kodahl war von Beruf Maschinenmeister und wurde im Konzentrationslager als Facharbeiter eingesetzt. Die Zeichnung bildet wahrscheinlich eine Situation in den Werkstätten der Deutschen Maschinen AG (DEMAG) ab, für die die Häftlinge in Falkensee arbeiten mussten. Bei dem erwähnten Alarm könnte es sich sowohl um einen Flieger- oder Fluchtversuchsalarm handeln als auch um einen Wecker.

Zeichnung. Foto: GuMS

Zeichnung. Foto: GuMS/SBG III 263

Auf dem dritten Bild ist ein in Blau gekleideter Mann zu sehen, welcher mit einem Fisch in der Hand eine Baracke verlässt. Auf der Tür steht „Block 4“. Diesmal wird zusätzlich ein Arbeitsort auf Französisch vermerkt: „65371. Lipszyc Rudolf Consulat de Pologne Anvers, Belgique“.

Die drei Zeichnungen zeigen stilistische Unterschiede auf, insbesondere das letzte hebt sich stark ab, da es teilweise aquarelliert wurde. Es ist anzunehmen, dass die Namen neben den Bildern die der dargestellten Personen oder die der Künstler sind, welche die Zeichnungen für Hansen anfertigten. Interessant ist auch, dass keine der drei Situationen den gängigen Vorstellungen von Leben im Konzentrationslager entsprechen. Einerseits scheint reichlich Essen vorhanden zu sein, andererseits ruht sich ein Häftling in einer Werkstatt aus – das könnte mit dem Arbeitsort, der Funktion und der Nationalität der Häftlinge zusammenhängen.

Nach den Zeichnungen folgen zwei Lieder. Das Erste scheint eine Lagerparodie über Falkensee zu sein. Das Zweite ist etwas länger und handelt von Weihnachten 1943. Es wirkt wie ein Motivationslied. Beide Lieder sind vermutlich vom norwegischen Liedermacher Rimestad Dagfin, welcher ebenfalls in Falkensee untergebracht war und dort mehrere Lieder verfasste oder aus seiner Erinnerung aufschrieb.

Markalis Erinnerungsbuch wurde in den letzten Wochen in Falkensee hergestellt und beinhaltet verschiedene Zeichnungen, Gedichte, Grußwörter und Zukunftswünsche von Mithäftlingen. Die letzte Zeichnung samt Gedicht ist mit einem Zukunftswunsch und der Unterschrift von Hansen versehen. Das Bemerkenswerteste ist jedoch die zweite Seite von Markalis Buch: Diese ist in genau demselben Stil gestaltet wie die Anfangsseite von Hansen. Markali zufolge stammen die meisten Zeichnungen nicht von den Häftlingen, die unterschrieben haben. Seine „Einführungsseite“ sowie viele Illustrationen sind von einem polnischen Mithäftling mit Namen „Sijeh“. Es ist also denkbar, dass dieser Sijeh auch die Anfangsseite von Hansen gezeichnet hat.

Markali und Rimestad arbeiteten im Schreibraum in Falkensee und hatten dort Zugang zu den Materialien für ihre Bücher. Denkbar wäre, dass Hansen die Materialien von ihnen bekam. Die inhaltlichen und künstlerischen Überschneidungen lassen darauf schließen, dass sich die Häftlinge untereinander austauschten und gegenseitig unterstützten. Der Fund der anderen Bücher zeigt, dass das Anfertigen dieser Erinnerungsstücke eine gängige, soziale Praxis war. Es ist allerdings schwierig, Hansens Buch als reines Erinnerungsbuch zu kategorisieren, da es Merkmale unterschiedlicher Buchtypen wie Erinnerungs-, Notiz- oder Adressbuch aufweist.

 

Notiz-/Lieder-/Adressbuch | 1943-1945 | Papier, Stifte, Tusche, Kordel | 14,6 x 20 x 0,7 cm | GuMS/SBG III 263

 

Zum Autor:
Nicolas Weicker, Student des Masterstudiengangs Public History der Freien Universität Berlin. Aktuell arbeitet er als studentische Hilfskraft beim Berliner Institut für Sozialforschung an einer empirischen Studie zur Bestandsaufnahme und Bewertung von Maßnahmen für politisch Verfolgte der SED-Diktatur in Berlin im Zeitraum von 1990 bis 2020.

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